Im Nanga-Parbat-Gebiet befinden sich die Dauersiedlungen vorwiegend in Höhen zwischen ca. 1000 bis
2500m. Die tiefer gelegenen Siedlungen sind nur durch künstliche Bewässerung der Wüstensteppe
möglich und liegen meist auf den Schwemmkegeln von Seitentälern des Indus. Die Siedlungsverbreitung
in der Strauchsteppe und im Steppenwald erstreckt sich mit zwei Ausläufern bis weit in das Massiv
hinein: ins Rakhiot-Tal und ins Buldar-Tal. In diesen beiden Tälern liegen auch die ständig bewohnten
Dörfer Tato und Muthat.
Die Felder dieser beiden Siedlungen liegen auf eiszeitlichen Moränenterrassen.
Bezeichnend sind die jahrezeitlich bedingten Wanderungen zwischen dem Winteraufenthalt in der Ebene
(zum Beispiel Gundarsfarm im Industal) oder in den tieferen Berglagen (zum Beispiel Tato mit 2300m)
und dem Sommeraufenthalt auf alpinen Matten im feuchten Nadelwald oder darüber, wie
"Märchenwiese", Behalcamp oder Bezar Gali. Die Anbaugrenze im Rakhiot-Tal liegt bei
ca. 3000m; auf den zum Teil oft sehr mühevoll angelegten Terrassen wird Mais, Kartoffel, Hirse und
Buchweizen angebaut.
Infolge der kurzen Vegetationszeit (Juni bis September) haben nur noch
Kulturpflanzen, die ihre Entwicklung in einer kurzen Feuchtigkeitsperiode abschließen können
(Gerste, Buchweizen, eventuell Weizen), die Möglichkeit zu reifen. Auch Viehwirtschaft wird in
diesen Tälern betrieben; es werden Rinder, Esel, Schafe, Ziegen und Hühner gehalten. Den Sommer
über werden die meisten Tiere auf die Hochweiden der alpinen Stufe geführt, im Winter dagegen im
Stall (zum Beispiel Tato) oder auf dem Weideland im Industal (zum Beispiel Gundarsfarm) versorgt.
Älterer Herr in der Nähe von Tato
Als Beispiel für das Leben in den Bergtälern sei hier die Talgemeinschaft Tato angeführt. Sie
umfasst 600 bis 700 Einwohner, 200 Rinder, 100 Esel und 5000 Schafe und Ziegen. Das Wort
"Tato" bedeutet auf Shinon, der Sprache dieses Gebietes, soviel wie "heißes
Wasser" oder "heiße Quelle" - nicht zu Unrecht, denn es entspringen tatsächlich in
der Nähe heiße Quellen vulkanischen Ursprungs.
Kinder am Weg zur Märchenwiese auf der Nordseite des Nanga Parbat
Das Dorf wird von einem Numbardar (er entspricht
unserem Bürgermeister, nur hat er mehr Machtbefugnisse, so teilt er zum Beispiel die Dorfbewohner
zur gemeinschaftlichen Arbeit ein) und von einem Imam, dem geistlichen Oberhaupt des Dorfes,
geleitet. In Tato selbst gibt es ein Gebetshaus. Die Frauen sind zwar unverschleiert, vermeiden
jedoch aus religiösen Gründen peinlichst jede Begegnung mit Fremden. Die Bewohner leben in
ärmlichen Verhältnissen, da der Boden sehr karg und die Ernährung einseitig ist. Hauptnahrung ist
Chapati, ein ungesäuertes Fladenbrot aus Weizen- oder Maismehl, und Lassi, eine säuerliche
Magermilch.
Daneben wird sehr häufig Tee getrunken, der in Pakistan anders zubereitet wird als
bei uns: der Tee wird ausgekocht und mit sehr viel Zucker und Milch serviert. Die Fehlernährung
Eiweiß- und Vitaminmangel) zeigt sich besonders im schlechten Gesundheitszustand der Kinder, die
stark an Dauerdurchfällen leiden und aufgedunsene Bäuche haben. Auch Schilddrüsenerkrankungen
infolge Jodmangels treten auf, da sowohl Salz als auch Wassser einen zu geringen Jodgehalt haben.
Die sehr einfach gebauten Blockhütten sind gegen den Erdboden hin kaum isoliert und haben keine
Fenster, sondern nur eine kleine Tür. Sie sind daher besonders feucht, so dass viele Dorfbewohner
an rheumatischen Erkrankungen leiden. Die bei manchen Hirten vorkommenden Augenentzündungen sind
entweder durch den fehlenden Rauchabzug in den Hütten (es gibt nur offene Feuerstellen ohne Kamin)
oder durch die starke Sonneneinstrahlung bedingt.
Wenn man bedenkt, wie hoch der Prozentsatz der Analphabeten in Pakistan ist, so findet man es
erstaunlich, dass es in Tato eine "Schule" gibt. Allerdings werden nur Knaben unterrichtet. Mit
einem Holzgriffel, der in angeschlämmte Kreide getaucht wird, schreibt der Schüler auf seiner
schwarzen Holztafel.
Die Bewohner der Täler um den Nanga Parbat sind wie die meisten Einwohner Pakistans Sunniten:
eine Religionsgrenze verläuft weiter nördlich (Gilgit); ab dort leben hauptsächlich Ismailiten
(zum Beispiel Hunzas), deren religiöses Oberhaupt Aga Khan ist. Die Hunzas im Karakorum bilden
eine europide Enklave, während die Bewohner des Nanga-Parbat-Gebietes als Mischvolk aufzufassen sind.
Die verkehrsmäßige Erschließung dieser Region hat nicht nur Vorteile gebracht, sondern auch viele
Nachteile. So bringt einerseits der Ausbau des "Karakorum-Highway", der Pakistan mit
China verbindet, dem Handel und dem Verkehr Nutzen; andererseits aber geht dadurch die Unberührtheit
und Eigenständigkeit dieser Gegend verloren. Damit hängt sicher auch eine gewisse Landflucht
zusammen, die die Ursprünglichkeit und innere Zufriedenheit der Bewohner des Nanga-Parbat-Gebietes
gefährdet. (Fritz Gartner)