Tibet erstreckt sich einschließlich heutiger chinesischer Provinzen - wie z.B. die Provinz Amdo - etwa 2000 km in Ost-West - und
ungefähr 1000 km in Nord-Süd-Richtung, eine Fläche, die 8 x größer ist als die der alten Bundesrepublik.
Die derzeitige Einwohnerzahl Tibets als autonomer Region der Volksrepublik China liegt bei 1,9 Millionen. Einschließlich der erwähnten
früheren Provinzen sind es an die 4 Millionen und nach Angaben der in Indien residierenden Exil-Regierung des 14. Dalai Lamas sogar 6
Millionen Einwohner.
Das Land ist somit außerordentlich dünn besiedelt, zwischen 1 und 3 Menschen pro qkm, während es in der BRD 242 sind. Aber das ist
nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Tibet eine durchschnittliche Höhe von mehr als 4000 m hat und dass lediglich die großen
Flusstäler mit einer Höhe von etwa 3600 m bis 3900 m - insbesondere das des Brahmaputra - die eigentlichen Siedlungsgebiete sind. Auf
den Hochebenen und in den Bergen über 4800 m (das ist die Höhe des Mont Blanc) trifft man nur noch Nomaden, deren Lebensweise sich in
den vergangenen 2000 Jahren kaum geändert hat.
Die Ureinwohner Tibets waren Nomaden, die vor etwa 3000 Jahren aus dem Nordosten nach Tibet eindrangen. Wahrscheinlich handelte es sich
um Mongolen aus Sibirien, deren ähnlich wagemutigen Vorfahren schon vor 20.000 Jahren während einer Eiszeit zu Fuß über die
Bering-Straße nach Nord- und Südamerika wanderten.
Es gibt nur drei nennenswerte Städte in Tibet, nämlich Lhasa mit ungefähr 140.000 Einwohnern (davon 70% Han-Chinesen, die erst in
jüngster Zeit hinzukamen), Shigatse mit etwa 40.000 Einwohnern und Gyantse mit 20.000 Einwohnern. Es leben demnach 80 bis 90% der
Bevölkerung noch auf dem Lande, als Bauern oder Nomaden.
Bei den Bauern haben sich die Lebensbedingungen - ähnlich wie bei den Nomaden - seit hunderten von Jahren kaum verändert. In den
Dörfern sieht man - soweit sie an den von den Chinesen aus militär-strategischen Gründen angelegten Schotterstraßen liegen - als
Verbindung zur Außenwelt allenfalls Telefonleitungen, wobei es fraglich ist, ob die Dörfer an das Telefonnetz angeschlossen sind.
Wie seit Jahrhunderten bilden auch heute noch Landwirtschaft und Viehzucht die Haupterwerbsquellen der Tibeter. In den fruchtbaren
Zonen längs der Flussläufe wird bis in eine Höhe von 4300 Metern Gerste angebaut. Sie ist Grundstoff für das Grundnahrungsmittel Tsampa,
einen Brei, für Fladenbrot und für Tschang, ein Gerstenbier (das für manche Besucher aus dem Westen ebenso merkwürdig schmeckt wie der
mit Yak-Butter gewürzter Buttertee). Kultiviert werden aber auch Weizen, Mais und Gemüse. Von der Viehzucht leben, abgesehen von einigen
Chinesen und ihren Musterfarmen, vor allem die Nomaden. Sie besitzen Schaf- und Ziegenherden für die Versorgung mit Wolle und Milch. Als
wichtigstes Nutztier betrachten sie allerdings das Yak, von denen es rund 5 Millionen gibt. Yaks werden als Zugtiere in der
Landwirtschaft und als Lasttiere in Transportkarawanen geschätzt, aber auch als Fleisch- und Felllieferanten.
Das einzige, was die Tibeter fremdbeziehen - so scheint es - sind Dalai-Lama-Bilder der Touristen. Nach anderen materiellen Gütern oder
nach Geld fragen sie nicht und brauchen all das wohl auch nicht.
DIE GESCHICHTE TIBETS
Die Tibeter sind keine Chinesen.
Historisch nicht zweifelsfrei belegt lebte der 1. tibetische König Nyatri Tsenpo um 500 v. Chr. also um die Zeit des Gautama Buddha in
Nordindien oder des Perikles in Athen.
Buddhistische Schriften sollen bereits um 400 n. Chr. unter der Herrschaft des 28. tibetischen Königs nach Tibet gelangt sein.
Im Tal des Yarlung Zangbo (Brahmaputra) stand die Wiege der tibetischen Kultur. Heute lebt hier der Großteil der Einwohner (rund 1,85
Mio) der Autonomen Region. Die gesamte geschichtliche Entwicklung des Tals vor dem 7. Jahrhundert liegt im Dunkeln. Dies ändert sich
erst mit der - historisch fassbaren - Gestalt des Königs Songtsen Gampo (tibetisch: Srongbtsan Sgambo). Er dehnte sein Reich bis nach
Nordindien und nach Yunnan aus, wo er auf Truppen des Tang-China stieß. Seine Heirat mit einer chinesischen Prinzessin wird heute oft
bemüht, um die enge Verbindung zwischen Tibet und China zu betonen. König Songtsen Gampo ehelichte aber auch eine Prinzessin aus Nepal,
mit welcher dann der Buddhismus in Tibet Einzug hielt, der die ursprüngliche schamanistische Religion (Bön) nicht verdrängte, sondern
mit ihr verschmolz, so dass sich im Laufe der Jahrhunderte der tibetische Lamaismus herausbildete. Die obersten Vertreter der Religion
übernahmen alsbald die Herrschaft im Staat - mit der Monarchie war es daraufhin im 8. Jahrhundert vorbei.
Den Höhepunkt der Machtentfaltung erlebte Tibet unter König Trisong Detsen (755-797), der nicht nur Taschkent in der heutigen GUS,
sondern auch Xian in der Volksrepublik China und weite Teile Nordindiens, Pakistans und Afghanistans eroberte. Im Jahre 779 erklärte
er den Buddhismus zur Staatsreligion, nachdem er Jahre zuvor den großen indischen Gelehrten Padmasambhava ins Land gerufen hatte, um die
Bön-Religion zu überwinden. Dies gelang Padmasambhava in genialer Weise dadurch, dass er die Bön-Religion nicht auszurotten versuchte,
sondern sie in den Buddhismus integrierte, so als wenn Bonifatius, der die Germanen hundert Jahre zuvor christianisierte, deren Götter
wie Wotan, Frija usw. in das Christentum übernommen hätte. Über Padmasambhava ist die Bön-Religion wesentlicher Bestandteil des
tibetischen Buddhismus, des sog. Tantrismus geworden.
Mit dem letzten Religionskönig Tibets, Ralpatschan (817-836), zerfiel die Macht. Tibet blieb seitdem über lange Zeiträume politischer
Spielball der großen Nachbarreiche. So wurde, nachdem Tibet von Dschingis Khan zu Beginn des 12. Jahrhunderts unterjocht worden war,
im Jahre 1264 der Abt des Klosters Sakya von dem Enkel Dschingis Khan - Kublai Khan - zum Herrscher Tibets ernannt. Sakja - etwa 80 km
nördlich des Mt. Everest gelegen - war daraufhin 100 Jahre die Hauptstadt Tibets.
Seit dem Ende der mongolischen Yüandynastie Chinas im 14. Jahrhundert war Tibet gut 300 Jahre von China unabhängig.
Im Jahre 1642 ernannten die wiedererstarkten Mongolen-Herrscher den bedeutenden 5. Dalai Lama Gyatso Lobsang - die vier vorhergehenden
wurden posthum Dalai Lamas - zum weltlichen Herrscher Tibets. 1720 entsandte der Qing-Kaiser-Kangxi Truppen in das unwegsame Tibet. Sie
kamen bis Lhasa und errichteten ein chinesisches Protektorat, das noch bis 1911 Bestand hatte. Den Sturz der Qing-Dynastie, nutzte der
Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, um das Land aller chinesischer Fesseln für ledig zu erklären. Diese Selbständigkeit
dauerte bis 1950, dem Einmarsch der Roten Armee auf Befehl Mao Zedongs. Unter dem Hinweis auf Tibets Vergangenheit gliederte man das
"westliche Versteck" oder auch das "Westliche Lager" - so die Übersetzungen von Xizang - 1951 offiziell der Volksrepublik ein. Die
grausame Niedermetzelung der chinesischen Garnision in Lhasa im Jahre 1959 war für die Chinesen Anlass, furchtbare Rache zu nehmen und
Tibet unter strenges Besatzungs-Regime zu stellen.
Der 14. Dalai Lama floh 1959 noch rechtzeitig nach Indien und mit ihm etwa 100.000 Tibeter, vorwiegend Mönche, die in vielen Ländern -
nicht nur in Indien, sondern z.B. auch in der Schweiz - eine neue Heimat fanden. Zahlen über die Opfer der verbliebenen tibetischen
Bevölkerung sind kaum zu ermitteln. Sie sind - besonders unter den Mönchen und den Großgrundbesitzern - erschreckend hoch gewesen. Die
meisten Klöster wurden geschlossen, von denen es vor 1959 nicht weniger als 3000 mit etwa 300.000 Mönchen gab. Mönche, die sich
widersetzten, wurden erschlagen.
Die schlimmste Prüfung hatte Tibet in den Jahren der Kultur-Revolution ab Mitte der sechziger Jahre zu bestehen. Viele Klöster wurden
dem Erdboden gleichgemacht und wertvolle Kunstschätze vernichtet, soweit sie nicht von einheimischen Buddhisten versteckt werden
konnten. Die Religionsausübung unterlag rigoroser Bestrafung. Der Buddhismus wurde quasi ausgerottet. Sogar die - allerdings unter Druck
gesetzte - einheimische Bevölkerung beteiligte sich an den Zerstörungen, z.B. im Kloster Ganden in der Nähe von Lhasa. Dies erklärt sich
vielleicht mit dem bis 1959 herrschenden tibetischen Feudalsystem der Klöster und Großgrundbesitzer. Mit Naturalabgaben bis zu 50% der
Ernten und Folter drangsalierten sie die Landbevölkerung.
Was die Barberei der Kultur-Revolution bedeutete, können wir uns nicht einmal auf Grund eigener Erfahrungen in den 30-er Jahren
vorstellen. Die Verwüstungen der tibetischen Klöster und Burgen sind allenfalls mit den verbrecherischen Bombenangriffen auf Städte und
Kulturzentren im 2. Weltkrieg vergleichbar. Bilder und Video-Aufnahmen des zuvor erwähnten Klosters Ganden bestätigen das in
bedrückender Weise. In diesem Kloster in 4300 m Höhe mit unwahrscheinlichem Ausblick auf den Trans-Himalaya lebten einmal 20.000 Mönche.
1959 waren es - bevor das Kloster zerstört und aufgegeben wurde - noch 5000. Heute sind es erst 270 Mönche, die mühsam das Zerstörte
wieder aufzubauen versuchen.
Noch heute weigern sich viele Tibeter aus den ihnen gebotenen Möglichkeiten, wie beispielsweise der kostenlosen staatlichen
Schulausbildung oder der Gratisbehandlung in Krankenstationen, Nutzen zu ziehen. Zwischen 1979 und 1989 versuchte die chinesische
Führung in Peking mit dem Dalai Lama Gespräche anzuknüpfen, um dessen Rückkehr zu erreichen. Man hoffte, dadurch Ruhe herstellen zu
können. Wie sehr man sich in dieser Hoffnung getäuscht sah, erwies sich Anfang März 1989, als die unterschwellig gärende Unruhe sich
plötzlich in heftigen Demonstrationen Luft machte. Nach Augenzeugenberichten kam es bei den chinesischen Sicherheitskräften zu einem
exzessiven Einsatz von Schusswaffen, 450 Tibeter wurden umgebracht, mehrere hundert verletzt, einige hundert fest genommen. Für etliche
Monate verhängte man sogar das Kriegsrecht über Lhasa. Selbst chinesische Funktionäre gaben im nachhinein zu, dass das Militär
unverhältnismäßig brutal vorgegangen sei. Seit diesem Zwischenfall heißt es in Peking, man werde mit dem Dalai Lama erst wieder
verhandeln, wenn dieser seine Vorstellungen von der "Unanhängigkeit Tibets" aufgebe und seine "separatistischen Aktivitäten" beende.
Die Tibeter werden noch immer von den Chinesen befehligt, auch wenn das Tibetische seit 1987 wieder die erste Amtssprache ist. Rund
300.000 Soldaten, Arbeiter und Funktionäre aus den Provinzen Chinas sind auf das "Dach der Welt" abkommandiert. Sie haben natürlich
die wichtigsten Posten in Verwaltung und Wirtschaft, aber auch im Bildungswesen inne, denn über die Erziehung - so glauben die Chinesen
- kann man immer noch am leichtesten Einfluss nehmen. Dieser ist jedoch gering: Bislang sind 80 Prozent der Tibeter Analphabeten.
Weiterhin versucht China mit finanzieller Unterstützung und auch sonst das Trauma der Verwüstungen während der Kultur-Revolution
vergessen zu machen. Geraubte Klosterausstattungen werden nach und nach zurückgegeben, soweit noch auffindbar. Die Religionsausübung
unterliegt offensichtlich keinen Beschränkungen mehr.
Die wichtigsten Klöster sind wieder einigermaßen instandgesetzt und die Religiosität der Tibeter ist ungebrochen, vielleicht sogar
vertieft. Täglich schieben und stoßen sich in dichtem Gedränge etwa 4.000 Pilger durch die heiligste Stätte des Buddhismus in Tibet, den
Yokhang in Lhasa. Ebensoviele besichtigen den Potala. Mit Worten ist das nicht zu beschreiben. In anderen Klöstern Lhasas geht es
ähnlich zu. - Oft sind die Pilger - überwiegend Großfamilien - Wochen und Monate unterwegs. Sie kommen aus bis zu 1.000 km entfernten
Dörfern zu Fuß oder auf offenen LKW's.
Im August 1993 fanden erstmals seit zehn Jahren Gespräche zwischen China und Vertretern des Dalai-Lama statt, die jedoch keine
grundlegenden Veränderungen in der Haltung Chinas bewirken konnten. In den folgenden Jahren hielt die politische und religiöse
Unterdrückung Tibets durch chinesische Behörden an. Im April 1996 wurde verfügt, dass in den buddhistischen Versammlungsstätten keine
Bilder des Dalai Lama gezeigt werden dürfen. Dieser bekräftigte im März 1999 erneut, dass Tibet weiterhin eine "wirkliche Autonomie",
aber keine politische Unabhängigkeit von China anstrebt.
Nach längerer Zeit relativer Ruhe kam es im August 2000 wieder zu Übergriffen chinesischer Sicherheitskräfte gegen religiöse Anhänger
des Dalai-Lama. Im Zentrum der Hauptstadt Lhasa wurde der als besonders heilige Stätte verehrte Jokhang-Tempel gewaltsam geräumt und die
buddhistischen Mönche vertrieben.
HINTERGRÜNDE ZUR HEUTIGEN SITUATION IN TIBET
Seit Jahrzehnten führt das tibetische Volk unter der weitsichtigen Führung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, einen gewaltlosen Kampf um
seine unveräußerliche Freiheit und Menschenwürde wie auch um seine demokratischen, allgemein gültigen Menschenrechte. Damit wollen die
Tibeter auch einen beispielhaften Beitrag zur Wahrung einer gewaltfreien und toleranten Kultur in einer zunehmend besorgniserregenden
gewalttätigen Welt leisten.
Verletzung der Menschenrechte
Die völkerrechtswidrige Besetzung Tibets durch die Volksrepublik China ist durch systematische Verletzung der Menschenrechte
gekennzeichnet. Die Menschenrechtsverletzungen in Tibet sind untrennbar mit Chinas Kolonialpolitik verbunden, die keine Opposition gegen
die absolute chinesische Herrschaft über Tibet duldet. Dies führte dazu, dass seit 1949/50 bis heute rund 1,2 Millionen Tibeter ums
Leben kamen und über 130.000 Tibeter ins Ausland flüchten mussten.
Auch wenn die chinesische Regierung heute behauptet, die Tibeter genießen Freiheit und Menschenrechte, so sprechen alle unabhän-
gigen Berichte aus Tibet für eine Fortsetzung der groben Menschenrechtsverletzungen. Organisationen wie Amnesty International, Asia
Watch, Internationale Juristenkommission, Gesellschaft für bedrohte Völker, Pax Christi International, SOS Torture, France Libertés,
Human Rights Advocates und Internationale Gesellschaft für Menschenrechte haben weitverbreitete und systematische Misshandlungen von
Tibetern sowie die Unterdrückung der buddhistischen Religion und die Sinisierung der Kultur Tibets dokumentiert und darüber berichtet.
Regierungsdelegationen, z.B. aus der europäischen Union, aus Australien, Österreich, Schweden und der Schweiz, die bis jetzt Tibet
besuchen konnten, haben die Ernsthaftigkeit dieser Beschuldigungen bestätigt.
In seiner Jahresbotschaft zum 36. Jahrestag des tibetischen Nationalaufstandes vom März 1959 berichtet der Dalai Lama am 10. März 1995:
"Die chinesischen Machthaber haben erst kürzlich eine Reihe neuer Maßnahmen zur Stärkung ihrer politischen Macht in Tibet ergriffen. Mit
dem Programm "Untersuchung und Prüfung" setzten sie verschärfte Sicherheitsmaßnahmen in Kraft und starteten eine neue
Verfolgungskampagne gegen die Verfechter der Menschenrechte und der Unabhängigkeit Tibet. Opfer dieser neuen politischen Verfolgung sind
Tibeter, die sich für die Bewahrung der tibetischen Kultur einsetzen, indem sie beispielsweise die tibetische Sprache unterrichten oder
Privatschulen gründen. Tibetische Kader und Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas müssen sich einer politischen Umerziehung
unterziehen, die an die Zeit der Kulturrevolution erinnert. Diejenigen, die man verdächtigt, religiöse und nationale Gefühle zu hegen,
werden aus der Partei ausgeschlossen. Die bewaffnete Volkspolizei hat Klöster überfallen, und die Welle politischer Verhaftungen hat nun
auch auf ländliche Gebiete übergriffen. Der Wiederaufbau und die Errichtung neuer Klöster wurde verboten und die Zulassung neuer Mönche
und Nonnen gestopt. Tibetische Reiseveranstalter und Touristenführer wurden entlassen, um den Informationsfluss unter Kontrolle zu
bekommen, und tibetische Jugendliche dürfen nicht mehr im Ausland studieren. Diejenigen, die sich gerade zum Studium im Ausland
aufhalten, müssen zurückkehren."
Dem Ausdruck der moralischen Entrüstung und Besorgnis sowie den zahlreichen Entschließungen müssen nun Taten folgen, damit greifbare
Besserungen nicht nur der wirtschaftlichen, sondern ebenso der kulturellen, sozialen und politischen Lage des tibetischen Volkes
verwirklicht werden.
Massenansiedlungen von Chinesen in Tibet
Der Angriff der chinesischen Führung auf die tibetische Religion, Kultur und nationale Identität nähert sich durch ihre Anwendung einer
demographischen "Endlösung" der Tibet-Frage ihrer endgültigen und nicht umkehrbaren Phase: die Einverleibung der Tibeter durch bloße
Kraft der Zahlen.
In vielen Gebieten von Nordost- und Osttibet sowie in den städtischen Ortschaften Tibets wird die tibetische Bevölkerung durch
chinesische Siedler und Verwaltungsangehörige zahlenmäßig bereits übertroffen. Alle institutionellen Apparate der politischen,
wirtschaftlichen, sozialen und sogar kulturellen Entscheidungsmacht in Tibet befinden sich in den Händen der Chinesen, so dass
letztendlich die von der chinesischen Führung propagierte Autonomie bloße Schaufensterdekoration ist. In Wirklichkeit werden die
Tibeter zunehmend an den Rand gedrückt und zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse in ihrem eigenen Land degradiert.
Berichten zufolge hat die chinesische Regierung begonnen, die Umsiedlung von Chinesen auch in die "sogenannte autonome Region Tibets"
zu verstärken. Als Vorwand dafür dient die wirtschaftliche Öffnung und Entwicklung dieses Gebietes. Die chinesische Regierung kündigt
bereits 62 Großprojekte an, wie etwa das "Yarlung-Tal-Projekt", das die Ansiedlung von tausenden von Chinesen im fruchtbaren Yarlung-Tal
in der "Autonomen Region Tibet" mit sich bringen wird. Gemäß Aussagen chinesischer Behörden wird das "Yarlung-Tal-Projekt" die
Ansiedlung von 300.000 Menschen zur Folge haben. Die gegenwärtige tibetische Bevölkerung in diesem Tal beträgt rund 30.000.
In der tibetischen Hauptstadt Lhasa z.B. leben jüngsten chinesischen Angaben zufolge rund 150.000 Chinesen und im Vergleich dazu nur
etwa 60.000 Tibeter. Von den 12.827 Läden, Teehäusern und Restaurants außerhalb von Barkor (Altstadtkern) sind nur 300 im Besitze von
Tibetern.
Noch beunruhigender in diesem Zusammenhang sind Beschlüsse einer Geheimsitzung mit dem Decknamen 512, die am 12. Mai 1993 in einem
kleinen Städtchen in der Nähe von Chendu, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan stattfand. Die Sitzung wurde einberufen, um
angeblich "kulturelle Angelegenheiten" zu diskutieren. Die eigentliche Hauptfrage jedoch, die erörtert wurde, war Gegenmaßnahmen zu
greifen gegen die Aktivitäten des Dalai Lama und der "Separatisten", ein Ausdruck, den die chinesische Regierung für Tibeter verwenden,
die sich ihrer Tibetpolitik widersetzen.
Um dem wachsenden tibetischen Widerstand gegen die chinesische Besetzung und Kolonialpolitik in Tibet entgegenzuwirken, wurde an dieser
Sitzung unter anderem beschlossen, eine große Anzahl von Chinesen in Tibet anzusiedeln. Damit soll - wie im Fall der Inneren Mongolei
oder der von Ost-Turkestan (Xinjiang) - bevölkerungmäßig eine Erhebung der Tibeter gegen die chinesische Herrschaft unmöglich gemacht
werden.
In Tibet bedeutet die Bevölkerungsverlegung die größte Bedrohung für das Überleben des tibetischen Volkes und seiner Kultur. Deshalb
ist sie in der Tat eine Form der ethischen Überschwemmung und somit des kulturellen Völkermordes.
Sino-Tibetische Verhandlungen
Der Dalai Lama bemüht sich seit 15 Jahren um eine friedliche und gerechte Lösung für die ernste Lage in Tibet auf dem Verhandlungsweg.
Im Jahre 1979, nach der politischen Wende in China, erklärte der oberste chinesische Führer, Deng Xiaoping, dass alles mit Ausnahme der
vollständigen Unabhängigkeit Tibets, diskutiert und gelöst werden könne. Das ist der erklärte Standpunkt der chinesischen Regierung
geblieben, jedoch hat sich die chinesische Führung stets dieser Position zuwider verhalten.
Im Vertrauen auf Deng Xiaopings Erklärung unterbreitete der Dalai Lama der chinesischen Regierung eine Reihe von konstruktiven
Vorschlägen als Verhandlungsbasis. Im Jahre 1987 verkündete der Dalai Lama vor dem Menschenrechtsausschuss des amerikanischen Kongresses
einen "Fünf-Punkte-Friedensplan". In einer von Mitgliedern des europäischen Parlaments in Straßburg gehaltenen Rede entwickelte der
Dalai Lama diesen Friedensplan weiter. Der Straßburger-Vorschlag, wie er später genannt wurde, enthielt weitgehend Zugeständnisse, die
Chinas erklärten Interessen in Tibet voll entsprachen. Ungeachtet der Tatsache, dass alles außer der vollständigen Unabhängigkeit
verhandelt und gelöst werden könne, lehnt es die chinesische Regierung leider bis heute ab, an den Verhandlungstisch zu kommen.
In seiner Botschaft zum 36. Jahrestag des tibetischen Nationalaufstandes vom März 1959 stellt der Dalai Lama am 10. März 1995 fest:
"Während der vergangenen 15 Jahre habe ich versucht, das Tibet-China-Problem mit der Geisteshaltung wahrer Freundschaft und der
Zusammenarbeit anzugehen, ohne dabei irgendwelche feindlichen Gefühle gegenüber den Chinesen zu hegen. Kontinuierlich und aufrichtig
habe ich den Versuch gemacht, mit der chinesischen Regierung in ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft Tibets zu treten.
Bedauerlicherweise hat China meine Vorschläge zu einer Lösung für unser Problem stets zurückgewiesen und stattdessen als Vorbedingung
für jegliche Verhandlungen verlangt, dass ich formal Tibet als "untrennbaren Teil Chinas" anerkenne. Die objektive Beurteilung der
wahren Natur der historischen Beziehungen zwischen Tibet und China überlassen wir am besten tibetischen und chinesischen Historikern
.... In der Vergangenheit habe ich mich absichtlich zurückgehalten, den historischen und rechtlichen Status Tibets hervorzuheben. Nach
meiner Überzeugung ist es wichtiger, in die Zukunft zu schauen als in der Vergangenheit zu weilen".
"Es ist sehr wichtig, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere die demokratischen Staaten, auch weiterhin die klare Botschaft
an die chinesische Regierung übermitteln, dass ihr Verhalten in Tibet unannehmbar ist und dass die Tibet-Frage durch friedliche
Verhandlungen ohne Vorbedingungen gelöst werden muss. Ein wirkliches Vorankommen bei der Lösung der Tibet-Frage ist dringender denn je,
denn die Gefahr eines gewaltsamen Konflikts in Tibet wird durch den mangelnden Fortschritt immer größer."
"Ich stehe noch immer zu meiner Haltung des "mittleren Weges" und bin zuversichtlich, dass fortgesetzte internationale Bemühungen, die
chinesische Regierung zu Verhandlungen mit uns zu bewegen, schließlich doch greifbare Ergebnisse zeigen."