Glücklich zurück im Basislager! Hiro überlebt - der Everest wurde unwichtig.
Fast täglich erreichten uns andere Meldungen bezüglich der weiteren Wetterentwicklung. Charly Gabl ist
zunächst der Überzeugung der 30. Mai könnte ‘unser’ Gipfeltag werden. Zwar nicht 100%-ig unseren
Erwartungen mit Windstille entsprechend, aber mit 30 - 40 Stundenkilometern grenzwertig ohne
Zusatzsauerstoff machbar. Die schon seit fünf Wochen im unteren Teil der Nordwand agierenden Tschechen
haben inzwischen wegen der unsicheren Wetterentwicklung ihr Vorhaben aufgegeben.
Mit dem 30. Mai als Gipfeltag im Hinterkopf starten wir am 26. Mai mit Verpflegung für 6 Tage.
Wieder den zentralen Rongbuk-Gletscher hinauf unter die Nordwand des Everest. Einen Teil unserer
Ausrüstung hatten wir schon bei unserer Erkundungstour vor ein paar Tagen am Wandfuß auf 6100 m
deponiert. Schon zur Mittagszeit sind wir dort. Ein kleines Wasserloch neben dem Zelt versorgt uns mit
frischem Gletscherwasser und nimmt uns die Arbeit des Schneeschmelzens ab.
Zentraler Rongbuk Gletscher mit Changtse und Everest Nordwand
Wasserloch im Wandfußlager
Den ganzen Nachmittag diskutieren Gerlinde, Hiro und ich wegen den weiteren Plänen: Angenommen wir
könnten die Supercouloir-Route durchsteigen und würden aber im oberen Wandteil aus dem so genannten
Hornbeincouloir bei viel zu hohen Windgeschwindigkeiten aussteigen wären wir ohne Zusatzsauerstoff
‘erledigt’. Im Alpinstil unterwegs, also ohne Fixseile die einen schnellen Abstieg ermöglichen würden,
wäre ein Rückzug über lange Blankeispassagen aber fast ausgeschlossen. Und ein weiterer Aufstieg zum
Gipfel ebenfalls.
Nachdem sich in den letzten Tagen die Voraussagen der Windgeschwindigkeiten fast
täglich geändert haben und der Jet mit ebensolcher Regelmäßigkeit von Nord nach Süd über den Everest
hinweg gewechselt hat bzw. wieder zurück, ist uns unter diesen Umständen die Nordwandroute zu spannend.
Abenteuer und Spannung sollen sein, !!mitunter deshalb sind wir hergekommen!! - aber unser
Leben leichtfertig auf's Spiel zu setzen muss nicht sein. Hinzu kommt, dass zumindest ich nach der
Überschreitung des Shisha Pangma noch immer nicht im Vollbesitz meiner Kräfte bin.
Also entscheiden wir
uns schweren Herzens am nächsten Tag auf einer 1938 von Odell, Shipton und Tilman genutzten und einmal
1985 von Australiern wiederholten Route zum Nordsattel (Chang La, 7066 m) am Normalweg der tibetischen
Seite des Everest aufzusteigen und zumindest eine Besteigung des Everest ohne Zusatzsauerstoff zu
versuchen.
27. Mai
Noch im Dunkeln würgen wir unseren Babybrei hinunter und trinken ein paar Tassen Tee und Capuccino.
Bald danach suchen wir uns den spaltenreichen, obersten Teil des östlichen Rongbuk-Gletschers hinauf.
Mit viel Glück und Erfahrung finden wir uns durch die Eisbrüche und Riesenspalten hinauf bis wir unter
der abschliessenden, 500 m hohen Zustiegswand des Nordsattels stehen. Wir haben auch hier Glück: statt
des erwarteten Blankeises finden wir zum Teil sogar Firnstreifen, auf denen wir schnell an Höhe
gewinnen. Nach fast 1000 Höhenmetern stehen wir am Nordsattel.
Aufstieg zum Nordsattel - im Hintergrund der Pumori über dem Lho La
Und trauen unseren Augen kaum: Selbst an den ebenen Stellen des Nordsattels sind für die
Normalwegbegeher Fixseile angebracht. 100 Meter weiter sehen wir zum ersten Mal das windgeschützte Lager
I des Normalwegs. Zelt an Zelt, dazwischen unzählige Stellen menschlicher Erleichterung. Mir graut es.
Kurz darauf der erste, sauerstoffbemaskte ‘Bergsteiger’. Am nächsten Tag erleben wir mit, dass
zahlreiche der Normalwegbegeher schon ab dem vorgeschobenen Basislager auf 6400 m mit Zusatzsauerstoff
unterwegs sind.
Am Nachmittag telefoniere ich mit Charly Gabl von der Wetterdienststelle in Innsbruck. Der 1. Juni, -
nicht mehr der 30. Mai - soll inzwischen der wind geeignetste Tag für einen Zusatzsauerstofffreien
Gipfelaufstieg sein. Wir entscheiden uns zwei Tage am Nordsattel auf 7000 m zu warten.
28. und 29. Mai
Abwarten, Schnee schmelzen, aufgegebene Lagerplätze nach zurückgelassenem Gas und Futter sondieren.
Fündig werden wir auch, - vom englischen Teebeutel bis zur von Amerika nach China exportierten
Dauerwurst mit aufgedruckten ‘Nutrition Facts’ finden wir alles was das hungrige Bergsteigerherz
begehrt. Die beiden zusätzlichen Wartetage überbrücken wir essens- und gastechnisch leicht. Hiro erzählt
die Geschichte vom Normalwegbegeher, der am Everest nur mit Sauerstoffmaske und Reduzierventil
angetreten war und alle weitere Verpflegung, Gas und Ausrüstung inklusive Sauerstoff für den weiteren
Aufstieg im Laufe der Tage am Berg ‘gefunden’ hat. Wir glauben es ihm - leicht.
Pat & Patachon - der voll- beladene Sherpa trägt auch noch die Daunenjacke
Lager II und Lager III am Normalweg des Everest
An unserem Minizelt kommen während den beiden Tagen viele Menschen vorbei - solche ohne
Zusatzsauerstoff: das sind fast zu 100% Sherpas mit Monster-Rucksäcken. Und solche mit Sauerstoff und
Daypacks (man beachte: wir sind gerade mal auf 7000 m) - die hoffnungsvollen Gipfelhelden.
30. Mai
Morgens bestes Wetter - fast windstill. Das wäre der ursprünglich geplante Gipfeltag gewesen.
Endlich geht es weiter - wir konnten es fast nicht erwarten. Diesmal kommen wir an vielen Menschen
vorbei. Ziemlich weit oben am frühen Nachmittag kippt das Wetter - es fängt stark an zu blasen und
schneien. Während ich weiter unten noch filme hat bereits Gerlinde auf 7700 m im Schotterfels eine
Plattform für uns freigeschaufelt. Kurz vorher hole ich Hiro ein. Er schwankt und kann kaum noch gehen.
Sprechen kann er nur noch in Bruchstücken. Im Sturm bauen Gerlinde und ich das Zelt auf - in das wir
Hiro hineinzerren müssen.
Über seine Beschwerden kann er nichts mehr sagen. Ist es nur eine starke,
allgemeine Unterkühlung, weil er sich im schlechter werdenden Wetter nicht genügend warm angezogen hat?
Wir packen ihn in unsere Schlafsäcke ein. Wie er sich bewegt, mit extremen Kopfschmerzen und völliger
Orientierungslosigkeit, mit fast starren Pupillen wird uns bald klar, dass es schlimmeres sein muss.
Draußen schneit es stark. Heute, in diesem Zustand bekommen wir Hiro nicht mehr nach unten. Er hat ein
ausgewachsenes Höhenhirnödem entwickelt, - das unbehandelt in kürzester Zeit zum Tod führt. Nach der
Überschreitung des Shisha Pangma und damit der Besteigung seines siebten 8000ers hat keiner von uns
damit gerechnet.
Gerlinde im Aufstieg nach Lager II am Normalweg
Hiro auf dem Weg der Besserung
Gerlinde voller Sorge wegen Hiros Zustand, beim Schneeschmelzen
Hiro stöhnt, schreit teilweise vor Kopfschmerzen, ist dann nicht mehr ansprechbar. Gerlinde ergreift
die Initiative: Dexamethason haben wir in der Apotheke für Notfälle immer dabei. Und eine Vene an Hiro's
Arm finden wir nach längerem Suchen und Abdrücken auch. Der Sturm drückt fast unser Zelt ein. Gerlinde
trifft trotzdem. Langsam, langsam. Es dauert eine Weile, - unendliche Momente voller Zweifel und
Hoffnung. Da die Kopfschmerzen zunächst nicht nachlassen geben wir Hiro zur Senkung des Blutdrucks noch
Nifidepin. Nur langsam verbessert sich Hiros Zustand. Er wird ansprechbar. Die ganze Nacht sind wir
wach, damit er immer wieder zu Flüssigkeit kommt.
31. Mai
Morgens fühlen wir uns sicher - Hiro hat die Nacht überlebt und sein Zustand ist einigermaßsen stabil.
Er kann berichten wie er sich fühlte: die ersten 2 Stunden nachdem wir ihn ins Zelt gezerrt hatten sind
komplett aus seinem Gedächtnis verloren. Unsere Stimmen hörte er zunächst erst wieder aus großer
Entfernung, sein Körper fühlte sich wie schwebend und gefroren an.
Tiefblick mit Morgenstimmung vom Lager II - der Pumori links und der Cho Oyu weiter rechts
Gerlinde versorgt einen schneeblinden Tschechen
Hiro im Abstieg vom Lager II - 7700 m
Der Abstieg zieht sich dahin, obwohl sich Hiro erstaunlich schnell erholt. Bald kann er wieder fast
selbständig gehen. Im Lager am Nordsattel langes Kochen und Schneeschmelzen. Unendlich müde ist Hiro.
Wir seilen weiter ab um Höhe zu verlieren und sind am frühen Nachmittag im Vorgeschobenen Basislager
(ABC) des Normalwegs. Wo uns Russel Brice, Bergführerkollege und Freund, herzlichst mit seiner Gruppe
aufnimmt. Danke, Russel.
Für uns ist die Expedition vorbei. Der Everest ist für dieses Mal uninteressant geworden. Hiro hat
überlebt; ‘glücklich’ ist ein schwacher Ausdruck für unsere Gefühle.
01. Juni
15 Kilometer sind es laut Karte vom vorgeschobenen Basislager des Normalwegs bis zu unserem
Nordwand-Basislager. Sicher 30% nochmals zusätzlich durch Windungen, Biegungen und Auf und Ab am
schotterbedeckten Gletscher.
Eine Bachdurchquerung mit Schmelz-Hochwasser kam noch hinzu. Als wir um 17:00 Uhr im Basislager bei
Sitaram und Stefan ankommen ist Hiro kurz vorm K.o. Gut wieder zurück zu sein.
Die nächsten Tage werden wir über Tingri und Nyalam zur Grenze nach Nepal reisen und hoffen am 05. Juni
wieder in Kathmandu zu sein. Wir freuen uns auf zu Hause und unsere Lieben.
Es war für uns ein großer Erfolg am Shisha Pangma bei sehr besch..eidenem Wetter nach der Durchsteigung
der direktesten Südwandlinie noch eine Überschreitung des Berges anhängen zu dürfen. Jetzt am Everest
umkehren zu müssen, um einem Freund das Leben zu retten, macht uns nochmals unendlich reicher.
Gerlinde und ich bedanken uns wie immer bei unseren Sponsoren, ohne die unser Unterwegs-Sein an den
8000ern nicht möglich wäre und all denjenigen, die uns in den letzten Wochen die Daumen gehalten und mit
uns mitgelebt haben.